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Leseprobe aus dem unveröffentlichten III. Band der Hohen-Lützow Saga:

Kapitel "Auf dünnem Eis"

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Königsberg, Anfang Oktober 1816

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„Premierleutnant Franz von Klotz!“, hallte es über den Flur der Kommandantur. Ein junger Mann in der Uniform der Berliner Garde-Dragoner löste sich von der Wand und zeigte dem Adjutanten, der eben den Namen gerufen hatte, seine Legitimation.

„Bitte, dort hinein, Leutnant von Klotz, Sie müssen mir die Übergabe der Papiere quittieren.“

Franz von Klotz folgte dem anderen in einen schmucklosen Raum, der nach frisch angerührter Tinte und Siegellack roch. Auf dem Schreibtisch stapelten sich fein säuberlich verpackte und verschnürte Briefpakete. Der Adjutant griff zielsicher zwei Päckchen heraus und tauchte eine Feder ins Tintenfass.

„Keine Angst, es sind die Richtigen“, sagte er vage lächelnd, als Franz zögerte, nach der Feder zu greifen und seinen Namen in das Ausgabebuch zu kritzeln.

„Selbstverständlich“, murmelte Franz und bemühte sich, die tiefe Narbe im Gesicht des Adjutanten zu ignorieren. Tatsächlich sah sein Gegenüber wie ein alter Haudegen aus, keinesfalls so, wie er sich einen Schreibstubenhengst vorgestellt hatte. Wahrscheinlich hatte der Mann vor ihm häufiger im Feuer gestanden als er selbst.

„Und hier ist noch Ihre persönliche Order und ein aktueller Pass. Um die Überfahrt nach London kümmern Sie sich selbst?“

„Ja.“

„Dann gute Reise, Leutnant.“

Franz salutierte und trat weg. Beim Verstauen der Pakete im Felleisen versuchte er, den Ärger über den eigenen Auftritt hinunterzuschlucken. Seine Mission hatte kaum begonnen, da war er bereits belehrt worden, durchschaubar zu sein. Er musste wohl noch an sich arbeiten, sonst scheiterte er und mit ihm sein Auftrag, der zukünftig gewiss nicht nur aus Kurierdiensten bestand. Sein Kommandant in Berlin, Oberst Zastrow, und sein unmittelbarer Vorgesetzter, Major Quetzin, hätten nicht so viel Aufhebens um diese London-Reise gemacht, wenn es nicht eine besondere Bewandtnis damit hätte. Franz vermied es, eine Regung zu zeigen, als er daran zurückdachte, wie behutsam Major Quetzin ihn in sein neues Dienstverhältnis eingeführt hatte. Quetzin hatte ihn aufgefordert, er solle das hässliche Wort „Spion“ durch den viel weniger verfänglichen Militärbeobachter ersetzen. Eines war klar: Nach der Zerschlagung napoleonischer Macht war sich Preußen seiner bisherigen Verbündeten nicht mehr sicher. Da war es klug, stets darüber im Bilde zu sein, was die Briten von den Russen hielten und umgekehrt, damit Preußen zwischen den Interessen zweier wirklicher Großmächte nicht zerrieben werde. Preußische Ambitionen diesbezüglich schloss Franz aus. Dafür fehlte König Friedrich Wilhelm III. die Entschlossenheit seines Großonkels. Friedrichs Zeiten waren unwiederbringlich vorbei und Franz schämte sich nicht, vor dem eigenen Gewissen zuzugeben, das längst nicht mehr zu bedauern. Die durchlebten Kriegsjahre hatten ihm menschliche Abgründe vor Augen geführt und die Erinnerung daran verfolgte ihn zuweilen bis in seine Träume.

Er presste das Felleisen unter den Arm und beschleunigte seine Schritte. Bis zur Klapperwiese in der Vorstadt südlich des Pregels hatte er ein gutes Stück zu laufen. Im Augenblick genoss Franz den Fußmarsch, der ihn in den Uferbereich des Schlossteiches führte, weil er so Gelegenheit erhielt, seinen schweren Kopf auszulüften. Die gestrige Zeche im „Blutgericht“ war recht hoch gewesen. Das unverhoffte Wiedersehen mit Grigori Dochorow hatte ihm einen willkommenen Anlass geliefert, ein, zwei Kelche über den Durst zu trinken. An die anderen Gründe, weshalb er bereits weinselig gewesen war, noch bevor Grigori sich zu ihm gesellt hatte, mochte Franz lieber nicht denken. Aber Gedanken halten sich ebenso wenig wie Träume an persönliche Wünsche. Sie fallen ungefragt über ihr Opfer her. Da half es auch nicht, noch einen Schritt zuzulegen.

Als Franz in der Klapperwiese ankam, stand ihm, trotz der kühlen Oktoberluft, die vom nahen Hafen heranwehte, Schweiß auf der Stirn. Er trat in ein grünes Speicherhaus, das mit Waren und Geschäftigkeit angefüllt war. Franz fragte ein wenig außer Atem einen Handlungsgehilfen nach Prinzipal Toussaint, doch der Junge erhielt nicht mal Gelegenheit, den Mund aufzutun. Der Prinzipal, ein verhärmter kleiner Mann, war schon zur Stelle und scheuchte seinen Gehilfen und alle anderen, die beim Verpacken von Warenballen innegehalten hatten, wieder an die Arbeit. Er sah forschend von einem emsig Werkelnden zum anderen, erst dann winkte er Franz, ihm zu folgen. Die Kontortür war hinter den beiden Männern kaum zugefallen, da machte sich Toussaint Luft: „Sind Sie von allen juten Jeistern verlassen, Herr Leutnant? Die janze Stadt redet schon davon. Warum haben Sie Ihren Kartellträger nicht die Langgasse auf- und abmarschieren und lauthals verkünden lassen, sich schlagen zu wollen?“

Franz verzog keine Miene. „Davon verstehen Sie nichts, Herr Toussaint, das ist meine Privatsache.“

„Jewiss, ich werde nie verstehen, warum vernunftbejabte Menschen lieber aufeinander schießen, anstatt die Anjelejenheit jütlich aus der Welt zu schaffen. Dieser Hang zu Duellen scheint doch nicht etwa in der Familie zu liegen?“

Krämerseele, dachte Franz. Er hielt es für unter seiner Würde, etwas zu erwidern. Auch wenn es ihm diesmal gelungen war, äußerlich ungerührt zu bleiben, beschäftigte ihn die Sache. Toussaint hatte selbstverständlich übertrieben. Jedenfalls schien es noch nicht bis zur Kommandantur gedrungen zu sein, dass er gestern Abend Rittmeister Ludwig von Trebbow auf Säbel oder Pistolen gefordert hatte. Trebbow hätte sich vor Zeugen für sein ehrloses Verhalten gegenüber Baroness Margitta von Plessen entschuldigen können, dann wäre die Privatangelegenheit gütlich beigelegt worden. Der Rittmeister hatte sich jedoch dagegen entschieden und nur lapidar verkündet, er stehe zur Verfügung. Grigori Dochorows Versuch, als Kartellträger vermittelnd einzugreifen, war fehlgeschlagen, also waren alle Formalien für ein Ehrengericht eingehalten worden. Aber was verstand Toussaint schon von Mannesehre? Den trieb etwas ganz anderes um. Und nur deshalb entschloss sich Franz, doch etwas zu entgegnen: „Es besteht kein Grund, sich aufzuregen, Herr Toussaint. Unser gemeinsames Anliegen wird ohnehin nicht berührt.“

„Wird nicht berührt? Und wer fährt nach London und verhandelt mit den Briten, wenn Sie sich bereits hier in Königsberg erschießen lassen?“

„Ihr Zuträger hätte etwas genauer hinhören sollen, dann wäre ihm nicht entgangen, dass ich Ort und Zeit bestimme. Bevor ich meinen Bruder und Ihren Sohn nicht gefunden habe, müssen Sie nicht fürchten, ich könne der Unterlegene sein. Und nun will ich kein Wort mehr darüber hören. – Also, wie steht es um meine Reise? Gestern haben Sie mir versichert, Sie befrachteten notfalls ein Schiff.“

„Meine Leute tun ihr Bestes, Herr Leutnant. Sie haben es doch mit eigenen Augen jesehen. Jede Hand ist tätig für Ihre Passage nach Memel. Einerseits verstehe ich nicht, warum dieser Umweg nötig ist, wo Sie doch nach London…“

„Andererseits kommt Ihnen der Umstand zupass, um Ihre Dependance in Memel mit Nachschub zu versorgen“, unterbrach Franz. Toussaint öffnete den Mund, aber Franz’ Blick stimmte ihn um. Er nickte und riss beschwichtigend die Hände hoch.

„Ihnen brauche ich nuscht vorzumachen. Die Kaffeeladung der Dolores fehlt mir auf der Habenseite. Ich kann mir Leerfahrten nicht leisten, auch wenn es um mein eigen Fleisch und Blut jeht. Nun ja. Ein paar Stunden mehr oder weniger fallen wohl nicht ins Jewicht. Ach, mein armer Junge. Ich hoffe inständig, er übersteht das alles einijermaßen, wo er doch nuscht zum Zusetzen am Leibe hat.“ Toussaint schaute genauso bekümmert vor sich hin wie gestern in der Börse, wo Franz aufgefallen war, dieser Mann benehme sich anders als die übrigen Kaufleute. Spätestens als er gehört hatte, Toussaint frage nach der Dolores, war für ihn klar gewesen, der Zufall habe ihm einen Verbündeten beschert.

„Haben Sie schon Zeit gefunden, Ihre Briefe an den preußischen Gesandten in London und an die Rostocker Schiffergesellschaft zu kopieren? Vielleicht sollten wir auch noch ein gemeinsames Schriftstück aufsetzen, damit ich mich an geeigneter Stelle auch in Ihrem Namen legitimieren kann“, schlug Franz vor.

„Die Kopien sind längst fertig, Leutnant von Klotz.“ Toussaint reichte Franz mehrere unversiegelte Papiere. „Wie Sie sehen, bin auch ich nicht untätig jewesen. Sogar der Auszug aus dem Rostocker Schiffsregister mit dem Namen Ihres Bruders auf der Passagierliste ist dabei. Ich dachte mir, die sei Ihnen besonders wichtig, wo die uns zusammenjeführt hat, neich?“

Franz starrte auf die Liste und spürte sofort das Gedränge im Rostocker Hafenkontor, wo er im Juli in dem dicken Folianten des Schiffsregisters geblättert hatte. Zu der Zeit hatte auf der Dolores noch niemand geahnt, dass man wenige Tage später gekapert werde. Und Franz hatte nicht geahnt, wer sich hinter Alan MacPherson de Lapérouse verberge. Er hatte den klangvollen Namen achtlos überlesen und war enttäuscht gewesen, den seines Bruders – Johann Friedrich von Klotz – nicht entdeckt zu haben.

Dem Schriftbild der Kopie von der Kopie, die sich Toussaint in Rostock hatte anfertigen lassen, war die Hast anzusehen, mit der sie übertragen worden war. Doch das unscheinbare Blatt Papier reizte Franz’ Nerven. Es erinnerte ihn daran, gestern nicht ehrlich gewesen zu sein. Er sagte sich zwar, er habe nicht willentlich gelogen, sondern Toussaint habe von sich aus eine schlüssige Erklärung für den schottisch-französischen Namen auf der Liste gefunden. Der Prinzipal hatte Franz und Alan kurzerhand zu Halbbrüdern erklärt und Franz hatte keinen Drang verspürt, zu widersprechen. Es durfte unter keinen Umständen bekannt werden, dass Johann mit dem Pass eines vermeintlichen Freundes unterwegs war.

Franz umfing sein Felleisen fester. Es besaß einen doppelten Boden für besonders heikle Papiere. Johanns Pass, der dort verwahrt lag, war mittlerweile als äußerst heikel anzusehen. Franz hatte das Dokument im Sommer in die Finger bekommen, als er mit dem Studiosus Alan MacPherson de Lapérouse aneinandergeraten war. Alan – an Händen und Füßen gefesselt und in eine Pistolenmündung starrend – hatte eingestanden, dass Johann sein Freund sei und ihm den Pass überlassen habe. Wahrscheinlich war der junge Mann selbst in dieser Situation kaltblütig genug gewesen und hatte gelogen. Dennoch! Dass Johann unter falschem Namen regelrecht hatte flüchten müssen, durfte noch weniger bekannt werden. Immerhin war kurz zuvor ein Kommilitone von Johann und Alan hinterrücks ermordet worden. Franz versuchte erfolglos, die Erinnerungen an die kopflose Leiche im Rostocker Zergliederungsinstitut und Kommissär Goltzows diesbezügliche Fragen zu verscheuchen.

War der unseligen Sache mit der Dolores tatsächlich etwas Positives abzugewinnen? Mussten er und seine Familie am Ende froh darum sein, dass sein Bruder keinen Beweis hinterlassen hatte, zur Tatzeit in der Stadt gewesen zu sein? Johann blieb wie vom Erdboden verschluckt. Mittlerweile hoffte Franz sogar, auf der Akte mit der Vermisstenanzeige zu Johann von Klotz sammle sich der Staub des Vergessens. Äußerst ärgerlich nur, sinnierte er zerknirscht, dass ausgerechnet Rittmeister von Trebbow wegen meiner Unvorsichtigkeit von Johanns Verschwinden erfahren hat. Die Wände der Fremdenzimmer in der großherzoglichen Sommerresidenz Doberan hatten sich als äußerst dünn erwiesen, so dass ein entscheidendes Gespräch unter Männern mühelos in das Nachbarzimmer gedrungen war.

Wenn Franz allein gewesen wäre, hätte er an dieser Stelle seiner gedanklichen Rückschau lästerlich geflucht. Aber so hütete er sich, etwas anderes als Interesse für die überreichten Schriftstücke zu zeigen.

Er richtete sich an dem Gedanken auf, dass der „echte“ Lapérouse sich nicht mehr mithilfe amtlicher Papiere für seinen Bruder ausgeben könne. Welchen Stempelschneider Alan bemüht haben mochte, um sich einen neuen Pass zu verschaffen, hatten Franz und seine Familie nicht mehr zu kümmern. Dafür musste sich allein Johanns undurchsichtiger „Freund“ verantworten. Franz peinigte auch kein schlechtes Gewissen, Alan dabei geholfen zu haben, sowohl dem Doberaner Amtshauptmann als auch dem Rostocker Kommissär zu entkommen. Höchstwahrscheinlich hielt sich der junge Mann in London auf und strich um Mr. Williams’ Kontorhaus. Das ließ zumindest Mr. Williams’ Brief an Friedrich Graf Klotz, Franz’ und Johanns Vater, vermuten. Möglicherweise hatte Alan es noch nicht aufgegeben, die Summe aus dem Wechsel zu ergaunern, den der Graf in dem Glauben ausgestellt hatte, Johann weile noch in London und benötige dringend Geld, um endlich heim nach Hohen-Lützow reisen zu können.

Als Franz an das väterliche Gut dachte, bedrängte ihn ein Gefühl, das ihn viele Jahre nicht behelligt hatte. Doch nach den Sommerwochen in Mecklenburg litt er unter Heimweh. Weit schmerzvoller war allerdings seine Sehnsucht nach Baroness Margitta von Plessen. Dieses Sehnen war umso schwerer zu ertragen, weil er fürchtete, Margitta sei ihm nur freundschaftlich zugetan. Damit ihm im selben Atemzug nicht wieder Rittmeister Ludwig von Trebbow in den Sinn komme, stellte er sich vor, was Margitta in diesem Augenblick tue. Plauderte sie mit seiner Schwester Johanna? War sie überhaupt wieder genesen?

Franz bemerkte sein Bedürfnis, die Hände zu ballen, aber seine Finger verkrampften sich nicht. Die Kopien blieben unversehrt. Er hatte eine weitere Lektion in Selbstbeherrschung bestanden. In dieser Verfassung fiel es ihm auch leichter, auf Toussaint einzugehen, der unter seinen buschigen Augenbrauen zu ihm hinaufblinzelte, ihn anscheinend schon eine Weile beobachtete.

„Danke, Herr Toussaint, ich weiß Ihre Umsicht zu schätzen.“

„Alles, was Ihnen nützt, nützt letzten Endes auch mir. Deshalb habe ich noch ein Schriftstück aufjesetzt, sozusagen eine jemeinsame Willenserklärung.“

„Einen Vertrag?“

„Nun, so weit würde ich nicht gehen, aber lesen Sie selbst.“ Damit überreichte er einen einmal in der Mitte gefalteten Bogen, so dass Franz vier eng beschriebene Seiten studieren musste. Während der Lektüre wurde ihm beklommen zumute, nicht nur weil Toussaint im Begriff war, ihm eine beachtliche Summe anzuvertrauen, die notfalls als Lösegeld dienen sollte. Toussaint war offensichtlich so verzweifelt, dass er glaubte, für einen Militär sei es ein Leichtes, die britische Admiralität zu überreden, Tanger in Schutt und Asche zu legen, falls man sich in dem Piratenhort weigere, die Gefangenen herauszugeben. Da half es bestimmt nicht, daran zu erinnern, noch nicht über das zweite Leutnantspatent hinausgekommen zu sein.

Franz widerstand auch dem Impuls, die Schultern hochzuziehen. „Ich kann nur für Ihr Geld einstehen und meinen Willen, die Gefangenen freizubekommen. Was ich in London tatsächlich erreiche, vermag ich nicht zu sagen.“

Toussaint nickte bekümmert. „Das dachte ich mir, Leutnant, deshalb nannte ich meinen Versuch“, er deutete auf den gefalteten Bogen, „eine jemeinsame Willenserklärung. Wenn wir noch einen unmissverständlichen Satz hinzufüjten, wären Sie dann bereit, diese … Übereinkunft zu unterschreiben?“

„Mein Ehrenwort reicht Ihnen also nicht?“ Franz hörte die Schärfe in der eigenen Stimme.

Der dünne Hals des Prinzipals verschwand zwischen dessen Schultern. „Das ist es nicht! Ich glaube Ihnen aufs Wort, dass Sie alles daransetzen, Ihren Bruder und meinen Sohn nach Hause zu holen. Aber ein Kaufmann braucht immer etwas für seine Bücher…“

Und ein Vater etwas für die Seele, dachte Franz. Er war überzeugt, Toussaint werde den eng beschriebenen Bogen jeden Tag hervorholen und damit den Beleg in Händen halten, getan zu haben, was in seiner Macht stehe. Das Papier fühlte sich gewiss bald so schlaff an wie die Königsberger Zeitung, die Mitte August laut Augenzeugenberichten gemeldet hatte, am 24. Juli 1816 sei vor Poliki ein Gaffelschoner von einer Korvette aufgebracht worden. Seither war Toussaints ohnehin schmächtige Gestalt wahrscheinlich noch hagerer geworden.

Es klopfte. Bevor der Prinzipal unwillig zur Tür schauen konnte, ging die auch schon auf. Ein junges Mädchen trat ein. Es trug ein Servierbrett vor sich her und blickte sorgenvoll hinüber zu Toussaint, als ginge es ihm darum, Franz’ Verdacht zu bestätigen.

„Papa, ich störe hoffentlich nicht?“, brachte es heraus und schaute seinen Vater erwartungsvoll an. In seinem Gesicht leuchtete die Frage: Das ist also der Mann, der mir meinen Bruder zurückbringt?

„Meine Tochter Babette, Leutnant von Klotz.“ Babette knickste hinüber zu Franz.

„Babette, wir haben wichtige Dinge zu besprechen, also sei ein liebes Kind und lass uns allein, ja?“

Doch sie verließ das Kontor nicht, sondern schob mit dem Servierbrett ein paar Listen beiseite und stellte es mit Nachdruck ab.

„Herr Leutnant, Sie müssen mir versprechen…“

Franz verspannte sich.

„…meinen Vater zu ermuntern, etwas zu sich zu nehmen. Bitte, greifen Sie zu.“ Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und schloss die Tür hinter sich.

„Wo soll ich unterschreiben?“, stieß Franz hervor.

Toussaints Gesicht hellte sich auf. Er dirigierte Franz an ein Pult. Über den ergänzenden Satz wurden sie sich schnell einig und so dauerte es nicht lang, bis schwungvolle Unterschriften unter den eng beschriebenen Seiten prangten. Toussaint legte mit einem Male emsige Geschäftigkeit an den Tag. Er lief flink wie ein Wiesel hin und her, schaffte Siegellack, sein Petschaft und eine Kerze herbei.

Franz schaute mit gemischten Gefühlen zu, wie der Prinzipal unter jeder Unterschrift ein paar Tropfen Lack kleckern ließ, doch er drückte seinen Siegelring mit derselben Entschlossenheit in die Masse wie der Prinzipal sein Petschaft. Wenn es denn einem leidgeprüften Vater hilft, sagte er sich.

„So ein filigranes Wappen – bei Ihrem Namen hätte ich etwas anderes erwartet“, sinnierte Toussaint, schaute jedoch gleich darauf erschrocken auf, ob er etwas Ungebührliches gesagt habe.

„Das Wappen derer von Klotz führt unser Vater. Die drei zierlichen Ruten gehören zur Familie von Weiden, zu unseren mütterlichen Ahnen“, sagte Franz und tat so, als habe er die Anspielung auf etwas Ungehobeltes überhört. Toussaints Erschrecken amüsierte ihn eher, denn die Zeiten, da er dem einen oder anderen Kadettenkameraden eingebläut hatte, er lasse sich wegen seines Namens nicht hänseln, lagen nun doch schon gute zehn Jahre zurück.

„Ihr Vater? Aber ich dachte…“

„Ich habe noch eine Schwester“, entgegnete Franz hastig und noch während er sprach, fühlte er, seine Antwort sei zu heftig ausgefallen.

Verflucht, so ist das, wenn man sich auf dünnes Eis wagt, schimpfte er in sich hinein, da muss man höllisch aufpassen, nicht einzubrechen.

Gleich darauf fragte er sich, ob er sich etwas einbilde, oder ob Toussaints Augen tatsächlich schmaler geworden seien.

„Ich habe ja noch ein Versprechen einzulösen, jetzt, da wir das Geschäftliche so gut wie erledigt haben…“, sagte Franz und zeigte einladend auf das Servierbrett. Das kleine Ablenkungsmanöver glückte: Toussaint lächelte, wenn auch flüchtig, zumindest erinnerte er sich seiner Gastgeberpflichten. Franz langte mit gesundem Appetit zu und kaute mit vollen Backen, damit der Prinzipal nicht auf die Idee komme, weitere hochnotpeinliche Fragen zu stellen. Außerdem ermunterte er seinen Wirt mit Blicken und Gesten, es ihm gleichzutun. Natürlich hoffte er darauf, die guten Sitten gewährten ihm noch etwas Aufschub. Toussaint schob sich tatsächlich eins von den liebevoll zurechtgemachten Häppchen in den Mund, doch er schien keinen Geschmack daran zu finden.

Franz zügelte sich unwillkürlich. Mit einem Male kam ihm die fixe Idee, bei seinem Appetit glaube sein Gegenüber, ihn kümmere das Schicksal des Bruders nicht besonders.

„Haben Sie einen Gewährsmann in London, der Ihnen auf den Wechsel eines ehrlichen Kaufmanns die Lösegeldsumme auszahlte?“, fragte Toussaint schließlich.

„Ja“, sagte Franz, ohne sich weiter zu erklären. Das Handelshaus Wiliams & Co. mochte Toussaint bekannt sein, aber Franz hatte keine Lust, seine Verbindung dorthin mit den Geschäften seines Vaters zu begründen. Zumal Mr. Wiliams nicht nur um Johanns richtigen Namen wusste, sondern sogar dessen Miniatur erhalten hatte. Eine Vorsichtsmaßnahme seines Vaters, damit sich kein anderer junger Mann für Johann ausgeben könne. Außerdem fürchtete Franz, er werde noch eine weitere Unvorsichtigkeit begehen, wo er es nicht für möglich gehalten hatte, wie schnell aus seinem Schweigen an entscheidender Stelle eine faustdicke Lüge geworden war.

Auch der Wechsel war bereits ausgestellt, so dass Franz nur noch den Erhalt quittieren und ihn in seinem Portefeuille verwahren musste.

„Es wäre mir lieb, wenn Sie mich hinunter zum Hafen begleiten würden, Herr Leutnant.“

„Gern“, sagte Franz und machte auch gleich einen Schritt zur Tür. Alles, was ihren Aufbruch beschleunigte, war ihm lieb. Der drückenden Atmosphäre, die Toussaint zu verbreiten imstande war, wollte er so rasch als möglich entkommen.

Im Speicher und draußen auf der Straße hatte er ständig das Gefühl, ein jeder mustere ihn durchdringend. Dieser Eindruck besserte sich auch nicht, als sie die Planke enterten, die ihnen Zutritt zu einer Brigg ermöglichte. Allenthalben kamen schwerbeladene Schauerleute angeschnauft, die lautstark freien Weg forderten und auch mal herzhaft fluchten, wenn sie aus dem Tritt gebracht wurden. Die Blicke dieser Leute konnten zartbesaitete Naturen in Angst und Schrecken versetzen. Toussaint jedoch, der für dieses Gehabe nur eine abfällige Geste übrig hatte, winkte Franz zum Niedergang. „Ich möchte Sie mit Kapitän Brinckmann bekannt machen“, flüsterte er unter einem schiefen Lächeln.

Wahrscheinlich will er mich wie einen seiner Warenballen übergeben, damit ich vor Abfahrt dieser Nussschale nicht an Rittmeister von Trebbow gerate, dachte Franz belustigt. Gut, dass der arme Mann nicht weiß, dass mein Duellgegner ebenfalls nach London unterwegs ist.

 

Kapitän Brinckmann verhehlte nicht, er nehme ungern Passagiere an Bord. Und als er sah, dabei handele es sich ausgerechnet um einen preußischen Offizier, spie er zielsicher in einen eigens dazu aufgestellten Napf. Franz begegnete dieser Unverschämtheit mit größtmöglicher Arroganz. Er musterte die Kajüte, die höchstwahrscheinlich Brinckmanns ganzer Stolz war, geringschätzig und genoss es, dafür nicht ins Kabelgatt gesperrt werden zu können.

Der Kapitän schob seinen Priem hinter die Backenzähne, kniff die Augen zusammen - und nickte erstaunlicherweise. Anscheinend hatte er eingesehen, die Fechterei mit Blicken sei unentschieden ausgegangen. Er brummte etwas in seinen eisgrauen Seemannsbart und bot seinen Gästen tatsächlich Platz an seinem Kartentisch an. Toussaint übergab die komplettierte Frachtliste und feilschte gleich wegen des Preises für diese „Fahrt außer der Reihe“, wie er sie nannte. Franz glaubte, nun müsse er sich auf das nächste Gefecht einstellen und sein Hochmut habe Toussaint ein gutes Geschäft verdorben. Aber es stellte sich heraus, Kapitän Brinckmann stecke voller Überraschungen. Der in der Seemannskluft alt gewordene Herr hatte bestimmt reflexartig auf den Soldatenrock reagiert. Seine geschmackvoll, ja üppig ausgestattete Kajüte legte beredtes Zeugnis für den Erfolg ihres Bewohners ab, wozu gewiss die eine oder andere Schmugglerfahrt während der Kontinentalsperre beigetragen hatte. Als Brinckmann jetzt von Toussaint erfuhr, was es mit der bevorstehenden Reise auf sich habe, verschwand das Mürrische aus seinen Zügen. Brinckmanns Blicke waren nicht länger abweisend, sondern forschend.

Diesen Vorschuss an Vertrauen galt es zu rechtfertigen. Deshalb gab sich Franz verbindlich optimistisch, was den beiden alten Herren augenscheinlich so gut gefiel, dass sie schneller als gedacht handelseinig wurden. Drei Becher Rumpunsch besiegelten die Abmachung. Als Kapitän Brinckmann seinen geleert hatte, war er vollends aufgetaut und bat seine Gäste, noch einen Moment zu bleiben.

„Ich habe da noch etwas Interessantes für Sie, meine Herren“, versprach er. Kurz darauf rief er einen Schiffsjungen und beauftragte ihn, einen Mr. Smith zu holen.

„Dieser John Smith“, Brinckmann zog sein rechtes Unterlid bedeutungsvoll herunter, „hat in Rotterdam bei mir angeheuert. Ich versichere Ihnen, Unkerei ist mir zutiefst zuwider, aber wenn dieser Mann kein Deserteur der Royal Navy oder ein entflohener Sträfling ist, darf ab sofort der Klabautermann in meiner Koje schlafen.“ Er kicherte verhalten, so dass Franz annahm, der gerade geleerte Becher sei nicht sein erster an diesem Tag gewesen. Doch dann schien Brinckmann sich darauf zu besinnen, was er gesagt hatte, und linste hinüber zu seinem sorgfältig gemachten Bett. Er sah ein wenig betroffen aus, als er sich wieder seinen Gästen zuwandte, doch der Eindruck verschwand, sobald der herbeigerufene Seemann eintrat. Smith wurde in einem Kauderwelsch aus Englisch, Niederländisch und Platt aufgefordert, zu wiederholen, womit er erst heute herausgerückt habe.

„Nur zu“, ermunterte Brinckmann, „die Herren interessiert es nicht, wie Sie auf mein Schiff gelangt sind, wohl aber die Flottenbewegung vor Portsmouth. Sie sagten, diesen Sommer sei eine Strafexpedition gegen die Barbareskenküste aufgebrochen?“

Franz und Toussaint horchten gebannt.

„Aye, Captain. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein Verband aus mindestens 25 Kriegsschiffen gen Süden gesegelt ist.“

„Wann war das?“, fragte Toussaint mit vor Erregung zitternder Stimme.

„Ende Juli, Sir.“

„Und woraus schlossen Sie, dass es gegen die Barbaresken gehen sollte?“, fragte Franz barsch, aber nicht minder aufgeregt.

Smith streifte seinen Kapitän mit einem raschen Blick und als der ihm freundlich zunickte und einen vierten Becher füllte, sprudelte es aus dem hageren Seemann nur so heraus: Bereits Ende Mai, Anfang Juni seien in Portsmouth besorgniserregende Nachrichten eingegangen. Die Zeitungen hätten sich mit dem Vermelden von Gräueltaten, verübt von Soldaten Omar Paschas, dem Herrscher von Algier, gegenseitig überboten. In Bona, einer Hafenstadt östlich von Algier – seit einem Dezennium an das Vereinigte Königreich verpachtet – seien der britische Vizekonsul und an die 300 italienische Perlenfischer einem Massaker zum Opfer gefallen. Daraufhin habe die britische Regierung eine Flotte ausgerüstet, um dem Treiben der Raubstaaten an der nordafrikanischen Küste ein Ende zu machen.

„Das sind ja wunderbare Neuigkeiten“, jauchzte Toussaint und schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel.

„Und was ist aus der Strafexpedition geworden? Liegt Algier in Schutt und Asche?“, fragte Franz, der die Freude des Prinzipals nicht vorbehaltlos teilen konnte. Der Seemann antwortete jedoch nicht, sondern griff gierig nach dem Becher und leerte ihn erst. Dann zuckte er mit den Achseln und gab mit dürren Worten zu verstehen, dass er die englische Küste bald darauf verlassen habe und seitdem fast ausnahmslos auf See gewesen sei.

„In Memel werden Sie jewiss mehr erfahren, Leutnant. Wir erwarten einige britische Segler, die bestimmt noch mehr Nachrichten an Bord haben“, frohlockte Toussaint.

Bei diesen Worten huschte ein Schatten über John Smiths Gesicht. Und Franz argwöhnte sofort, ob der Mann sich nur wichtig gemacht habe, um bei der Gelegenheit eine Sonderration Rum zu ergattern. Allerdings konnte es ebenso gut sein, dass er vor Landsleuten auf der Hut sein musste und gerade seine Einkehr in Memeler Seemannsspelunken verworfen hatte.

Brinckmann war zufrieden und entließ Smith mit einem weiteren Nicken.

Franz hütete sich, sarkastisch zu klingen, als er auf die Koje deutend sagte: „Nun, der Klabautermann muss mit einer anderen Schlafstatt vorlieb nehmen“.

Kapitän Brinckmann vergalt ihm die Zuversicht mit einem gut gelaunten Grunzen und einem warmen Händedruck. Beim Abschied ermahnte er seinen Passagier noch, mindestens eine halbe Stunde vor dem Auslaufen an Bord zu sein.

„Wir legen Schlag 12 ab“, sagte er mit der Autorität eines Mannes, der sein Leben lang der See getrotzt hatte.

 

„Dass ich nicht schon früher drauf jekommen bin, einen meiner Korrespondenten in Hamburg diverse Zeitungsverlage aufsuchen zu lassen“, rügte Toussaint sich selbst. „Sie müssen wissen, ich habe das wichtigste Handelsblatt abonniert. Leider ist das aktuellste Paket mit der Dolores unterwegs jewesen. Und lange war ja nicht einmal bekannt, dass ein marokkanischer Kaper für den Verbleib der Dolores verantwortlich sei. Außerdem wusste ich vor Sorge nicht, wo mir der Kopf stand“, verteidigte sich der kleine Mann weiter, obwohl Franz ihm keinerlei Vorwürfe gemacht hatte. „Ich bitte Sie, sowie Sie Näheres erfahren haben, es mir mitzuteilen. Ein paar wenige Zeilen jenügen.“

„Selbstverständlich“, erwiderte Franz, aber Toussaint hörte gar nicht hin. „Endlich komme ich mal mit einer frohen Botschaft heim. Meine Babette wird janz aus dem Häuschen sein“, sagte sein Begleiter so enthusiastisch, dass Franz sich nicht gewundert hätte, wenn das vertrocknete Männlein an seiner Seite auch noch den einen oder anderen Luftsprung vollführt hätte. Dies war eine gute Gelegenheit, sich zu verabschieden. Er musste vor seiner Einschiffung noch ins Russische Konsulat. Er hatte dort Papiere entgegenzunehmen. Also unterbrach er den Redeschwall des Prinzipals, der sich schon wieder in allen möglichen Mutmaßungen erging, und streckte ihm die Hand entgegen. Toussaint blinzelte, doch er fasste sich schnell und ergriff Franz’ Rechte mit beiden Händen. Sein Abschied geriet so überschwänglich wie seine Freude, dass es den Barbaresken endlich an den Kragen gegangen war.

„Passen Sie, um Jottes willen, auf sich auf! All meine Hoffnungen und juten Wünsche begleiten Sie“, versicherte er mit schwankender Stimme.

„Ich verspreche es“, sagte Franz mit dem aufrichtigen Vorsatz, Toussaints Rat zu beherzigen.

 

Auf dem Weg zum Konsulat beschlich Franz Unbehagen. Er fürchtete, es sei voreilig gewesen, seine Bagage von einem Hausdiener des „Löwenkrugs“, wo er logiert hatte, an Bord der Brigg schaffen zu lassen. Die legte unzweifelhaft Schlag 12 ab. Kapitän Brinckmann scherte sich nicht darum, ob die Herren um Konsul Bolotov nun endlich das Briefpaket beschafft hätten, das Franz bereits gestern hatte entgegennehmen wollen.

Am Münzplatz angekommen wurde ihm zwar versprochen, der Konsul werde ihn augenblicklich empfangen, er landete jedoch ein weiteres Mal in dem Salon mit den Romanow-Porträts. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Während Franz in die Runde blickte, und bei Alexanders jugendlichem Antlitz verweilte, fühlte er, wie sich Zar Peters Augen in seinen Rücken bohrten.

Die Tür zum Empfangsraum fand er seltsamerweise offen. Geschirr klapperte aufeinander und Gläser klirrten. Ein gedämpfter Fluch drang heraus. Franz lauschte automatisch. Es war bestimmt länger als ein Jahr her, dass er etwas von einem russischen Muttersprachler gehört hatte. Deshalb war er für jede Möglichkeit dankbar, seinen Wortschatz in dieser Sprache zu festigen und wenn möglich, zu erweitern. Er lächelte in sich hinein, weil er mühelos verstand, worum es nebenan ging.

„Sieh zu, dass die Geschliffenen heil bleiben“, mahnte jetzt eine zweite russische Zunge.

„Dir ist wohl noch nichts zerbrochen?“

„Das schon, aber noch keins von den guten Gläsern. Die werden nur für besondere Gäste hervorgeholt.“

„Dann ist dieser schwarze Husar wohl jemand Besonderes?“

„Schwarzer Husar!! Wie du redest! Du solltest schnellstens lernen, wer hier verkehrt. Empfehlung hin oder her – einmal nicht tief genug verbeugt und du kannst dir eine neue Stellung suchen. Das war Grigori Iwanowitsch Dorochow vom Regiment Alexandria. Sein Vater war ein berühmter Partisanenanführer.“

Franz starrte zwar auf das Gemälde vor sich, aber er sah weder Alexanders blondgelocktes Haar, das sich um eine hohe Stirn kringelte, noch den erstaunlich kleinen, eher weiblich wirkenden Mund des gegenwärtigen Imperators. Nebenan war offensichtlich von Grischa, seinem Kartellträger, die Rede.

„Ach, und wegen des Vaters ist der Sohn wohl gleichfalls berühmt?“, wurde gehöhnt.

„Der junge Dorochow ist ebenfalls ein Kriegsheld“, wurde der Fragende belehrt. „Das ist auch gut so, denn seine zukünftigen Geschäfte wird er im Geheimen abmachen.“ Nach dieser verheißungsvollen Eröffnung schwiegen die beiden Bedienten ärgerlicherweise und klapperten umso eifriger mit dem Geschirr. Anscheinend stapelten sie die Reste einer größeren Tafel auf einen Servierwagen. Erst nach einer Weile meldete sich der Zurechtgewiesene erneut: „Woher willst du das wissen? Die Herren haben ausschließlich französisch geredet. Ich habe kein Wort verstanden.“

Statt eine neunmalkluge Antwort zu geben, fragte die zweite Stimme feierlich: „Kannst du schweigen?“

Franz rührte sich nicht.

Keine Antwort.

Vielleicht ein Nicken?

Das Geschirr klirrte in einem fort und drohte zuweilen, das Gesprochene zu überlagern. Franz verstand immerhin so viel, der Neunmalkluge habe verschwiegen, die französische Sprache zu beherrschen – offenbar war es im Russischen Konsulat nicht erwünscht, dass Bediente mitbekamen, was an der Tafel besprochen wurde. Eine kluge Vorsichtsmaßnahme, wie sich bei diesem Ausbund an Mitteilsamkeit herausstellte. Der Sprachkundige prahlte bereits damit, wie er zu seinen Kenntnissen gekommen sei: Er habe eine Zeit lang als Aufwärter an einem polnischen Edelhof gearbeitet. Eines Abends habe er mitbekommen, wie der Französischlehrer der herrschaftlichen Kinder mit größter Geschwindigkeit und Geschicklichkeit an einem Ausgehrock genäht und sich damit als französischer Schneidergeselle entlarvt habe. Für sein damaliges Stillschweigen ob dieser Ungeheuerlichkeit habe er Unterricht erhalten und der hätte ihm bereits so manchen Vorteil verschafft.

„Schließlich muss Unsereiner auch sehen, wo er bleibt“, rechtfertigte er sich. Während Franz sich noch darüber wunderte, warum dieses Geheimnis einem ziemlich einfältig wirkenden Menschen anvertraut worden war, plapperte man im Nachbarzimmer schon munter weiter: „Bei Tisch ging es auch um die Dame, der du gestern noch nachgelaufen bist...“

„Ah, Lady Clark, sie hatte ihren Schirm vergessen“, erinnerte sich der andere.

Franz glaubte, nicht recht gehört zu haben. Meinten die beiden Tratschmäuler tatsächlich seine Reisebekanntschaft? Auf der Fahrt vom markbrandenburgischen Königsberg zum pommerschen Stargard hatte jene Dame allerdings noch Anelja Grabowska geheißen. Erst gestern war er ihr hier, in diesem Salon, ein zweites Mal begegnet. Konsul Bolotov hatte sich in seinem Beisein von ihr verabschiedet und sie dabei zu seiner größten Verwunderung Lady Clark genannt.

„Eine sehr vornehme Frau, und dabei so freundlich. Sie hat mir ein Trinkgeld in die Hand gedrückt“, wurde stolz berichtet.

„Nun höre und staune. Was meinst du wohl, was ich zu dieser Dame erfahren habe?“

„Woher soll ich das wissen! Nun rück schon raus damit!“

„Sie ist bereits seit zwei Jahren tot!“

Es schepperte und klirrte.

„Sieh nur, was du angerichtet hast, du ungeschickter Mensch! Ausgerechnet Borscht... Die Flecken bekomm ich doch im Leben nicht raus“, schimpfte der Französischkundige. Einen Atemzug später stürmte ein junger Mann in den Salon und kam prompt ins Straucheln, weil Franz ihm mit voller Absicht in den Weg trat. Der Mann sah aus, als sei er einem Meuchelmörder entkommen. Seine Livree, sogar seine weiße Perücke waren über und über mit roten Flecken besudelt. Franz packte ihn beim Arm, zog ihn zu sich heran und zischte ihm auf Russisch ins Ohr: „Seine Information zu Lady Clark ist mir ein Goldstück wert.“ Er hatte die verlockend glänzende Münze auch gleich bei der Hand. Franz überraschte es, wie erstaunlich schnell der Ausdruck des Entsetzens aus einem Gesicht schwinden und dem der Gier Platz machen konnte. Der Besudelte deutete auf eine unscheinbare Tür, hinter der die beiden kurz darauf verschwanden. Sie standen auf einem zugigen Flur, der vermutlich zu den Dienstbotenräumen führte.

„Seine Exzellenz hat Grigori Dorochow aufgetragen, Lady Clark nach London zu begleiten, oder, wenn das nicht möglich sein sollte, sie dort ausfindig zu machen und sie nicht mehr aus den Augen zu lassen.“

Soll wohl heißen, Dorochow hat ein Liebesverhältnis mit der Dame einzugehen, dachte Franz.

Sein Gegenüber hatte den Blick nicht von dem Goldstück gewendet. Franz ließ es in der geschlossenen Faust verschwinden.

„Was gab es noch?“

„Die echte Lady Clark gehörte zu den ausgemachten NapoleonVerehrerinnen. Sie war in zweiter Ehe mit einem englischen Diplomaten, mit Sir Carles Clark, verheiratet und in erster mit einem polnischen Edelmann, einem gewissen Grabowski.“

„Interessiert mich nicht. Was ist über die aktuelle Lady Clark bekannt?“

„Nichts! Seine Exzellenz hat ja erst vor einer Stunde erfahren, dass er einer Betrügerin aufgesessen ist.“

Das klang glaubhaft, schließlich war es Franz ganz genauso ergangen.

„Welches Anliegen hat die Dame hierher geführt?“, fragte er betont barsch. Doch der junge Mann zog nur die Schultern hoch und schaute betreten, wohl unsicher darüber, ob seine Auskunft das Goldstück nun auch wert sei.

Die Zeit drängte, also wechselte die Münze - sinnigerweise war es ein Napoleondor - den Besitzer und Franz sah zu, dass er sich mit möglichst unbeteiligter Miene ein weiteres Mal bei den Romanows einfand. Er hatte sich gerade vor Zarin Elisabeths üppigem Abbild postiert, da wurde eine weitere Tür geöffnet. Wie es aussah, ließ sich Konsul Bolotov nun herab, ihn zu empfangen. Und so war es auch. Der Hausherr bat Franz in sein Arbeitszimmer und gab sich überaus liebenswürdig. Er entschuldigte sich wortreich für die Wartezeit, die sein Besucher habe in Kauf nehmen müssen. Der erst kürzlich aufgedeckte Betrug der vorgeblichen Lady Clark hatte an Bolotovs glatter Diplomatenfassade keine Spuren hinterlassen. Es hätte Franz auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Glücklicherweise dauerte es auch nicht allzu lang, bis der Konsul ein sorgfältig in Ölpapier eingeschlagenes Päckchen über seinen Schreibtisch schob.

„Nun sind sie endlich da - die Papiere für The Mall Nummer acht und neun. Es ist doch erstaunlich, wie die göttliche Vorsehung waltet. Erst lässt der Herr uns Russen dafür sorgen, dass die Anwesenheit des Freiherrn von Jacobi-Kloest in Carlton House Terrace nicht mehr vonnöten ist und kaum acht Jahre später kehrt der Langgediente als außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister des Königreichs Preußen nach London zurück. Richten Sie dem alten Herrn meine Glückwünsche aus“, verlangte Bolotov, allerdings in so frostigem Ton, dass der schlecht verhehlte Neid nicht zu überhören war.

„Sehr gern, Exzellenz.“

Bolotov winkte ihn zu einem Pult, wo Franz quittierte. Damit waren seine Angelegenheiten erledigt und seiner Einschiffung stand nichts mehr im Wege. Doch er verabschiedete sich noch nicht. Hier im Konsulat wurde nun einmal jede Zeitungsnotiz, vor allem diejenigen ausländischer Blätter, genau unter die Lupe genommen. Es dauerte Tage, wenn nicht gar Wochen, bis er selbst in einem Zeitungsarchiv würde recherchieren können. Also gab er seinem inneren Drang nach und holte zugleich vorsichtig aus, als er sagte: „Ich bin mir meiner unbedeutenden Rolle als Kurier völlig bewusst. Darf ich dennoch eine Frage an Eure Exzellenz richten?“

Bolotov nickte erst nach reiflicher Bedenkzeit. Franz’ hatte auch noch betont, bei der Frage handele es sich um rein Privates.

„Eure Exzellenz haben gewiss von dem dreisten Vorfall vor Poliki gehört?“

Bolotovs rechter Mundwinkel zuckte unwillig, eine Hand fuhr vor seinen Körper, als müsse er etwas abwehren. Franz war nun doch erstaunt, dem Konsul eine andere Gemütsregung als aufgesetzte Höflichkeit entlockt zu haben. Deshalb sagte er rasch: „Mein Bruder war an Bord der Dolores, die Königsberg anlaufen wollte. Nach dem ... Zusammentreffen mit einer Korvette fehlt nun jede Spur von dem Schoner. Die Hiesigen reden davon, die Dolores sei von Barbaresken gekapert worden.“

„Das ist überaus bedauerlich, nur weiß ich beim besten Willen nicht, wie ich Ihnen in dieser Angelegenheit behilflich sein könnte.“

„Nun, ich bin kaum einen Tag in der Stadt und habe zumindest erfahren, dass die Briten wegen des Massakers von Bona eine Strafexpedition ausgerüstet haben. Können Euer Exzellenz mir sagen, wie diese Angelegenheit ausgegangen ist? Exzellenz verrieten mir doch keine Geheimnisse, wo so etwas in sämtlichen großen Blättern ganz Europas vermeldet worden sein dürfte.“

„In der Tat. Da zeigt es sich wieder, was mit einer Streitmacht zur See zu bewerkstelligen ist“, höhnte Bolotov und glaubte wohl, sein Spott treffe ganz Preußen – eine Großmacht, die nicht einmal imstande war, den Handel vor der eigenen Küste zu schützen. „Sogar Piratennestern ist nicht anders beizukommen, als sie mit kostspieligen Expeditionen dem Erdboden gleichzumachen. Ich kann Ihnen mit auf den Weg geben, Admiral Exmouth hat ganze Arbeit geleistet. Sowohl Algier als auch die feindliche Flotte liegen in Schutt und Asche. Der nunmehrige Held zur See war sogar so vermessen, zu behaupten, der Sklavenhandel sei dank seines Sieges für jetzt und immerdar abgeschafft. Als er diese Meldung an seine Admiralität auf den Weg brachte, glaubte er wohl noch selbst daran. Jetzt laufen schon wieder Nachrichten ein, dass die Frechheiten kein Ende nehmen.“ Bolotov bedachte Franz mit einem herrischen Blick und fuhr dann fort: „Sie sehen mir so aus, als wollten Sie gleich fragen, wie wir Russen zu dieser Problematik stehen. Ich kann Ihnen zu meinem Bedauern keine Antwort geben, nur so viel: Vor Kronstadt hat sich noch kein Barbareske blicken lassen und sollte die Pforte unserer Kriegs- und Handelsflotte den Zugang zum Mittelmeer versperren, werden Sultan Mahmud, Kaiser Solimann und die ständig wechselnden Deys und Beys des Maghreb einmal zu spüren bekommen, was Krieg bedeutet“, eiferte Bolotov. Doch dann räusperte er sich. Er hatte anscheinend bemerkt, sich weit mehr erregt zu haben, als es sich in seiner Position ziemte.

Franz’ Gedanken waren längst nach Kronstadt auf der russischen Insel Kotlin geeilt, dem Kriegshafen der russischen Ostseeflotte im Finnischen Meerbusen. Mehr noch: Sitz der Admiralität und Werftstandort. War es möglich, dass die Korvette nicht von Nordafrika, sondern von Kronstadt aus zu ihrer Kaperfahrt aufgebrochen war? Hatte sich Bolotov ob dieses Wissens so aufgeregt? Dabei unterstellte Franz den Russen nicht einmal, wissentlich einen Raubstaat mit modernstem Kriegsgerät ausgestattet zu haben. Vielleicht war die Admiralität einem windigen Mittelsmann aufgesessen, der vorgegeben hatte, im Auftrag einer befreundeten Nation zu handeln.

Dieser Welt werden die Schurken niemals ausgehen, dachte er grimmig, und brachte es fertig, sich zeitgleich mit einem liebenswürdigen Lächeln zu bedanken und seine Abschiedsformel anzubringen. Im Hinausgehen fühlte er sich von Blicken verfolgt. Er schaute sich aber nicht mehr nach dem Hausherrn um, der ihm seiner Meinung nach nicht anders als übellaunig nachstarrte. Hätte er doch noch ein Auge riskiert, hätte er einen zutiefst verunsicherten Mann gesehen, der ärgerlich über sich selbst die Fäuste ballte.

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Als Franz die Planke zur Brigg hinüberbalancierte, schlug die Halbstundenglocke des Doms. Kapitän Brinckmann würdigte die Pünktlichkeit seines Passagiers mit einem kurzen Nicken und übergab Franz dann der Fürsorge eines Schiffsjungen.

„Herr General“, sagte der unter einem breiten Grinsen, „ich zeige Ihnen Ihre Kammer.“

Franz holte scharf Luft und starrte sein Gegenüber zunächst empört an, doch das strahlende Lächeln in dem Jungengesicht wirkte ansteckend.

„Jochen?“, fragte Franz ungläubig. Der Bursche war kaum wiederzuerkennen und das lag nicht nur an dessen praktischer Seemannskluft.

„Donnerwetter, du hast dich aber herausgemacht. Gewachsen scheinst du auch zu sein“, stellte Franz immer noch lächelnd fest. Doch dann wurde er ernst und er fragte mit gesenkter Stimme: „Du bist doch nicht etwa ausgebüxt?“

„Aber nein, Herr Leutnant. Stellen Sie sich vor: Mudder Schultzen hat sich bei unserm Captain für mich verwendet. Da durfte ich anheuern. Und hier bin ich!“

„Ausgerechnet Mudder Schultzen? Wie kam ’s denn?“, fragte Franz hellhörig geworden. Er hatte prompt seine Rostocker Zimmerwirtin aus der Eselföter Straße vor Augen, wie sie wilde Drohungen gegen ihr Aborthäuschen auf dem heimischen Hinterhof ausstieß. Franz hatte Jochen gestellt, als der in Johanns Studierstube eingedrungen war und aufschlussreiche Papiere hatte entwenden wollen. Damals hatte er den Ertappten kurzerhand in den Abtritt gesperrt, aber bald feststellen müssen, es sei besser, den Jungen zu verhören, ohne Mudder Schultzen dabeizuhaben. Er hatte ihr und dem Jungen glauben gemacht, er habe so seine Methoden, verstockte Elemente zum Sprechen zu bewegen. Daraufhin war sie zu ihrem Schwager geflüchtet.

„Mudder Schultzen hat mir bei nächstbester Gelegenheit aufgelauert...“

„...und dich gezwungen, haarklein zu berichten“, seufzte Franz.

Jochen zuckte mit den Schultern. „Sie kennen die alte Dame doch. Es kam mir so vor, als wollte sie unbedingt ihren Stock auf meinem Rücken ausprobieren. Also hab ich ihr treu und brav erzählt, wie mich unser gemeinsamer Freund, dieser feine Herr mit der spitzen Zunge, überzeugt hat, bei ihr einzusteigen und wie ich es auf sein Geheiß hin angestellt habe, wo er mir sogar einen Schlüssel mitgegeben hat“, erinnerte Jochen und setzte wieder einmal seine erprobte Unschuldsmiene auf. „Von da an war sie wie verwandelt, hat mich gefragt, ob ich ihr nicht hin und wieder zur Hand gehen möchte. Das hab ich dann getan. Mudder Schultzen hat’s mir erst mit Pflaumenkuchen und später mit dem Eintrag in die Schiffsrolle von Captain Brinckmanns Clara vergolten. Ich wollt ’s auch nicht glauben, aber ich hab’s Ihnen ja versprochen, ein neues Leben anzufangen.“

„Und bist tatsächlich auf bestem Wege, ein grundsolider Seemann zu werden“, stellte Franz fest und musterte Jochen mit einem anerkennenden Blick. Unter dem Gespräch hatten sie den Niedergang passiert und waren vor einer Kajüte angekommen.

Jochen machte eine einladende Gebärde und stemmte die Tür auf. „Die nächsten Stunden gehen Sie unserm Ersten am besten aus dem Weg“, riet er, „der hat nämlich seine Siebensachen packen und sich mit einer kleineren Kammer begnügen müssen.“

„Wann werden wir in Memel ankommen“, fragte Franz peinlich berührt.

„Morgen im Laufe des Tages“, gab Jochen zurück.

„Geht es nicht ein bisschen präziser“, bat sich Franz aus. „Wie viele Mahlzeiten muss ich an der Seite eines schlecht gelaunten Offiziers einnehmen?“

„Kann ich nicht sagen. Solche Vorhersagen hat mir die See abgewöhnt. Sie wissen doch, auf See und vor Gericht begibt man sich in Gottes Hand.“ Mit der altklugen Weisheit auf der Zunge verabschiedete sich der Junge, schließlich wurde beim Ablegen jede Hand gebraucht.

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Ende der Leseprobe

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